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Jahreslosung 2023


1. Januar 2023

Wir befinden uns auf den ersten Seiten der Bibel. Sie erzählen von Menschen, die sich lieben und streiten, von tödlicher Eifersucht, komplizierten Familienverhältnissen, von Lug und Trug, von Scheitern und Neuanfängen. Mit diesen Menschen schreibt Gott Geschichte(n). Mit Menschen, die glauben und zweifeln. Mit Menschen, die sich an seine Verheißungen klammern, auch wenn sie lange auf ihre Erfüllung warten müssen. Wie Abram und Sarai. Ihre Geschichte beginnt mit einem verhängnisvollen Satz: „Aber Sarai war unfruchtbar und hatte kein Kind.“ (Genesis 11, 30)

Welche Tragik klingt da schon an! Solche scheinbar in Stein gemeißelten Sätze gibt es, die über Menschen und Familien stehen. „Aber Sarai war unfruchtbar…“ – Stimmt das?

Abram und Sarai stammen aus Ur in Mesopotamien, dem heutigen Irak. Auf Gottes Zusage hin wagen sie den Aufbruch: „Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein.“ (Genesis 12, 1u.2)

„Aber Sarai war unfruchtbar und hatte kein Kind.“ Wie ein roter Faden zieht sich das durch ihr Leben. Ebenso Gottes großes Versprechen: Ich werde euch das Land Kanaan geben und ihr werdet ein großes Volk werden!
Was passiert? Beide werden älter, sind viel und zum Teil recht abenteuerlich unterwegs und wohnen als Fremdlinge im verheißenen Land. Steht Gott zu seinem Wort oder haben sie vergeblich gehofft?

Seit Abram und Sarai als Fremdlinge in Kanaan wohnen, sind zehn Jahre ins Land gezogen: „Sarai, Abrams Frau, gebar ihm kein Kind. Sie hatte aber eine ägyptische Magd, die hieß Hagar.“ (Gen. 16,1)

Mit einer dritten Person kommt Bewegung in die Geschichte: Hagars semitischer Name bedeutet Flucht, Fremdling. Sarai erhofft sich von ihr das Ende einer unerträglich langen Warteschleife: „Und Sarai sprach zu Abram: Siehe, der HERR hat mich verschlossen, dass ich nicht gebären kann. Geh doch zu meiner Magd, ob ich vielleicht durch sie zu einem Sohn komme. Und Abram gehorchte der Stimme Sarais.“ (Genesis 16,2)
Die Idee Sarais mag uns verwerflich vorkommen. Abrams willfähriger Gehorsam mag uns befremden. Im Alten Orient war dieser Plan nicht außergewöhnlich. Sarais Magd soll die Rolle einer Leihmutter übernehmen. Wird das Kind der Leibmagd auf dem Schoß der Herrin geboren, wird es als vollberechtigtes Glied der Familie anerkannt. Sarais Geduld ist am Ende und sie beschließt, Gottes Versprechen auf die Sprünge zu helfen. Die Folgen lassen nicht lange auf sich warten. Hagar wird schwanger. Ein Wendepunkt im Leben von Sarai, Abram und Hagar, der nachwirkt bis heute.

Gott sieht

Wie geht es Hagar damit? Sie ist Sarais Magd – das ist ihr Stempel. Außerdem eine Geflüchtete, eine Fremde, wie ihr Name schon sagt. Als solche verrichtet sie ihren Dienst ungeachtet und im Hintergrund. Jetzt gerät sie in den Blick und soll Abrams und Sarais Kinderwunsch erfüllen. Sie braucht nicht gefragt zu werden, fügt sich und wird tatsächlich schwanger. Hagar lässt ihre Herrin spüren, wer jetzt die angesehenere Position hat. Die Dynamik zwischen den beiden eskaliert. Gegenseitige Demütigungen sind an der Tagesordnung. Wie reagiert Abram? Offensichtlich erst, als Sarai explodiert und sich über die Erniedrigung durch Hagar beschwert. Bevor ihre Herrin Maßnahmen gegen sie ergreift, flieht die Schwangere in die Wüste Schur. Erschöpft lässt sie sich an einer Wasserquelle zu Boden fallen.

In ihrer Grafik richtet Stefanie Bahlinger unseren Blick auf dieses Häufchen Elend. Hagar kauert am Boden zerstört im Wüstensand. Die Künstlerin holt sie aus ihrem Schattendasein ins Licht. Senkrecht von oben leuchtet es auf sie herab. Noch durchdringt es nicht das Dunkel ihrer Verzweiflung. Noch schafft Hagar es nicht, sich aufzurichten. In ihrem Elend mutterseelenallein vergräbt sie ihr Gesicht in den Händen und weint. Leise nähert sich ihr eine blaue Gestalt und berührt sie. Es folgt ein Zwiegespräch zwischen dem Engel und ihr: „Aber der Engel des HERRN fand sie bei einer Wasserquelle in der Wüste, nämlich bei der Quelle am Wege nach Schur. Der sprach zu ihr: Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her und wo willst du hin? Sie sprach: Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen.“ (Genesis 16, 7 u.8)
Hier passiert Unglaubliches im Leben von Hagar. Sie ist die erste Frau in der Bibel, die Gott durch seinen Boten persönlich anspricht! Sie bleibt Sarais Dienerin. Doch vom Engel wahrgenommen und mit ihrem Namen angesprochen bekommt sie ihre Würde zurück. Bisher hatte sie zu befolgen, was ihre Herrin befahl. Jetzt wird sie gefragt: „Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her und wo willst du hin?“ Eine alltäglich anmutende Frage wird an dieser Stelle zu einer existentiellen.

Hagars Antwort fällt kurz aus: „Ich bin von meiner Herrin Sarai geflohen.“ Damit bringt sie ihre Verzweiflung auf den Punkt. Zwei Personen sind im Hintergrund der Grafik zu sehen – vermutlich sind es Abram und Sarai. Nur schemenhaft gemalt dominieren sie die rechte Bildhälfte. In warme rotorange Töne getaucht setzen sie sich deutlich ab von dem zarten Grün und Blau der linken Bildhälfte. Viel Wärme hat Hagar bei Sarai und Abram nicht erfahren. Vielleicht meint das Rotorange die hitzigen Reibereien zwischen Sarai und Hagar? Viel kleiner, fast unscheinbar wirkt dagegen die blaue Gestalt, die sich Hagar zuwendet. Zeigt ihr der Engel einen Weg aus dem Dilemma? Bedeuten die Grün – und Blautöne, dass neuer Lebensmut und Hoffnung in ihr wachsen?
Doch der Engel schickt sie in die „heiße“ Situation zurück. Es ist die einzige Chance, dass ihr Kind als legitimer Sohn Abrams anerkannt werden kann. Hagar ist nicht nur die erste Frau in der Bibel, die Gott durch seinen Boten persönlich anspricht, sondern auch die erste Frau, die eine umfassende Segensverheißung erhält: „Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können. Weiter sprach der Engel des HERRN zu ihr: Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn der HERR hat dein Elend erhört.“ (Gen 16, 10 u.11)

Noch ist Hagar in der Wüste und weiß, dass sie wieder umkehren muss. Zwischen ihr und den beiden Figuren im Hintergrund dominiert die Farbe Violett, die auch für Verwandlung stehen kann. Die beginnt bei Hagar. In der Begegnung mit dem Boten Gottes erfährt sie Gott selbst und kommt zu der Erkenntnis:
„Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (Gen. 16, 13) Das ist für Hagar der Name Gottes und zugleich ihr persönliches Glaubensbekenntnis! Diese Erkenntnis richtet sie auf und verwandelt sie von der Dienerin Sarais zur von Gott angesehenen und gesegneten Hagar.
Gott sieht sie nicht nur, sondern hat auch ihr Elend gehört. Damit sie das nie vergisst, soll sie ihrem Sohn den Namen Ismael geben, der genau das bedeutet: Gott hört. Als der Engel wieder entschwindet, kann sie es kaum fassen: „Gewiss hab ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat. Darum nannte man den Brunnen: Brunnen des Lebendigen, der mich sieht. Er liegt zwischen Kadesch und Bered.“ (Genesis 16, 13 f.) Er wird zu einem Ort, an dem Israel bezeugt, dass Gott auf das Elend der Entrechteten und Entmachteten sieht und sich ihrer annimmt.

Gott ist treu

Nach ihrer Rückkehr bekommt Hagar erneut die Endlosschleife mit, in der Abram und Sarai immer noch stecken. Ein Licht am Horizont: „Und Hagar gebar Abram einen Sohn, und Abram nannte den Sohn, den ihm Hagar gebar, Ismael.“ (Genesis 16, 15)
Endlich trifft auch das längst Versprochene und bisher vergeblich Erhoffte ein: „Und der HERR nahm sich Saras an, wie er gesagt hatte, und tat an ihr, wie er geredet hatte. Und Sara ward schwanger und gebar dem Abraham in seinem Alter einen Sohn um die Zeit, von der Gott zu ihm geredet hatte. Und Abraham nannte seinen Sohn, der ihm geboren war, Isaak, den ihm Sara gebar.“ (Genesis 21, 1 – 3)
Endlich! Möchte die Künstlerin mit ihrer Farbgebung an Gottes Regenbogen und an seinen unverbrüchlichen Bund mit uns Menschen erinnern? Er ist auch über unser Leben und Gottes Geschichte(n) mit uns gespannt – und zerreißt nicht.
Wie ein lichtdurchfluteter Vorhang breiten sich die Farbflächen nach unten hin aus. In der Mitte öffnet er sich. Es gibt Zeiten, in denen ich mich vergeblich nach Gottes spürbarer Nähe und seinem Eingreifen sehne, er aber wie hinter einem Vorhang verborgen bleibt. Dann reißt der Vorhang plötzlich auf und lässt mich, und sei es manchmal auch nur für kurze Zeit, erkennen: Ich bin ihm nicht egal. ER sieht und hört mich. Und ER greift ein.


Verlag am Birnbach – Motiv von Stefanie Bahlinger, Mössingen
Auslegungstext: Renate Karnstein, Verlag am Birnbach