Hirtenbrief des Landesbischofs Tobias Bilz
22. Dezember 2024
Lasset uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. (Lukas 2, 15 b)
Liebe Schwestern und Brüder,
im Vorausblick auf das Weihnachtfest möchte ich mit Ihnen meine Gedanken teilen und einen adventlichen Gruß schicken, den wir gemeinhin den „Hirtenbrief“ des Landesbischofs nennen. Hirtenbrief, das ist ein schönes Wort, weil mir gleich die Hirten aus der Weihnachtsgeschichte einfallen.
Nachdem ihnen die Schar der Engel erschienen war, rafften sie sich auf, um ein „Narrativ“ zu betrachten, welches weniger spektakulär ist, als das, was eben auf dem Feld geschah: Ein Kind in Windeln gewickelt in einer Krippe bei zwei Menschen in einem Unterschlupf. Dürftigkeit. Verlust. Darin soll widersinnigerweise erkennbar werden: Euch ist heute der Heiland geboren. Geht hin und seht!
Verlust. So heißt ein neues Buch des Soziologen Andreas Reckwitz. Er belichtet darin eine Seite der Moderne, die zwar immer da war, aber eher verdrängt wurde. Die Moderne lebt vom Fortschrittsglauben. Und tatsächlich lassen sich in den letzten Jahr hunderten und Jahrzehnten erstaunliche Fortschritte der Menschheit verzeichnen, die zum größten Teil zusammen mit technischen Neuerungen realisiert werden konnten.
Jetzt aber treten zunehmend auch die Schattenseiten solchen Fortschritts ins Bewusstsein. Verluste können nicht mehr kaschiert oder durch gemeinschaftliche Maßnahmen abgefedert werden. Verlustangst wird für viele realer.
Auch der Zukunftsforscher Matthias Horx spricht davon, dass die Ideale der Aufklärung, nämlich Vernunft und Humanismus, über lange Zeit ein Zukunftsversprechen generiert haben, das nun in eine Krise gerät. Freiheit und Frieden bei wachsendem Wohlstand waren bislang für die meisten lohnenswerte Perspektiven. Jetzt werden sie brüchig.
Besonders schmerzlich empfinde ich das Aufflammen kriegerischer Auseinandersetzungen auf der Welt, die Ablehnung demokratischer Diskurse zugunsten autokratischer Führung und eine Sprache, die ausgrenzt und schnelle Urteile fällt. Wahrscheinlich haben sie ihre Wurzel in der Verunsicherung, weil Verlust droht und Perspektiven fehlen.
Das zurückliegende Jahr hat deutlich gemacht, dass der Rückhalt der Kirchen in der Bevölkerung schneller schwindet als geschätzt wurde.
Die Kirchenmitgliedschaftsstudie hat wichtige Erkenntnisse gebracht, die für eine Neuausrichtung kirchlicher Arbeit hilfreich sein werden. Sie zeigt zugleich auf, dass dramatische Veränderungen bevorstehen. Und dabei meine ich nicht nur die finanzielle Ausstattung. Es wird deutlicher zu fragen sein, welchen Dienst eine Kirche in der Minderheit für die Menschen bereithalten will. Zugleich werden wir stärker davon abhängig sein, welcher Platz den Kirchen und ihren Lebensäußerungen eingeräumt werden wird.
Verlust. Der Soziologe und der Zukunftsforscher – beide plädieren dafür, die Krise an zunehmen. Zugleich gehen sie davon aus, dass genau dann neue Visionen entstehen; Ideen, die eine Sogwirkung auslösen und neue Gestaltungskräfte freisetzen werden.
Der christliche Glaube lebt wesentlich von der Erwartung des Reiches Gottes. Das ist das Zentrum der Verkündigung Jesu. Seht das Reich Gottes ist im Werden! Seht, das Reich Gottes ist mitten unter euch! Und schon in den Evangelien ist deutlich, dass es dabei nicht um eine stetig besser werdende Zukunft geht, sondern Abbrüche zu bestehen
sind. Das sind zugleich die Momente, in denen die Vision des kommenden Gottesreiches eine besondere Kraft entfaltet. Deshalb liegt die Aufgabe vor uns, diese Vision für unsere Zeit zu definieren.
Das neugeborene Kind in der Krippe jedenfalls steuert auf den Verlust seines Lebens am Kreuz zu. Darin aber liegt Gottes Rettung für die Menschheit. Selbst das bekannteste Lied, ohne das es nicht Weihnachten werden will, spricht vom Verlust:
Welt ging verloren, Christ ist geboren.
Freue, freue dich, o Christenheit. (EG 44, 1)
Eine befreundete Kollegin hat gesagt: „Wenn das Wort Gottes auf die Situation trifft, schlägt es Funken.“ Ich möchte hier weniger an Konflikt oder gar an einen apokalyptischen Flächenbrand denken, sondern an Initialzündungen hoffnungsfroher Aufbrüche. Manche werden verglimmen, andere werden Feuer fangen und Leuchtspuren für
eine Neuorientierung setzen.
Ich bin von Herzen dankbar für Ihren Dienst. Ich danke allen in unserer Kirche – ob hauptamtlich oder ehrenamtlich tätig –, die beständig oder verzweifelt, selbstgewiss oder fragend mit Hirn und Herz, mit Wort und Tat das Evangelium verkündigen. Lassen Sie sich nicht beirren und nutzen Sie fröhlich Ihre Begabungen in diesen Zeiten des Umbruchs. Ich bin sicher, es werden sich neue Wege auftun. Die Verheißungen Gottes bleiben nicht nur, sie schenken auch neue Kraft.
Die Hirten jedenfalls auf dem Feld raffen sich auf nach dem Funkenschauer vom Himmel und gehen dorthin, wo die Verheißung schlummert.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Angehörigen eine erwartungsfrohe Adventszeit und ein gesegnetes Christfest.
Ihr
Tobias Bilz, Landesbischof
Hirtenbrief, Dezember 2024